Zunächst befremdet die unfassbare Stille. Für einen Stadtmenschen ist das ungewohnt. Als der Specht klopft, gewinnt man den Eindruck, als hämmere er direkt auf den Hochsitz ein, auf dem wir Platz genommen haben, und die paar Schwirrfliegen, die im Sonnenlicht tanzen, erinnern mit ihrem summenden Flügelschlag an ein Kampfgeschwader. Abgesehen von ein paar weiteren Bussard-Rufen war es das dann aber auch mit der Geräuschkulisse auf dieser Lichtung mit Heidekraut und jungen Bäumen. Später am Abend, wenn die Dunkelheit hereinbricht, verstummen auch diese natürlichen Töne. Mehr noch als zuvor verursacht nun jede eigene Bewegung gefühlt einen Donnerschlag. Die Bartstoppeln, die am Jackenrand reiben, die Kleidung beim Zurechtrücken auf der harten Hochsitzbank. Auch das Magengrummeln des Jägers und seines Begleiters sind deutlich vernehmbar. Aber es ist unfassbar schön hier. Nationalpark-Jäger Jonas Klumpp sitzt, lauscht, schaut und wartet. Stundenlang. Und er harrt der Dinge, die da kommen mögen – oder auch nicht!
Es ist für ein herrlicher Spätsommertag auf dem Ruhestein. 25 Grad zeigt das Thermometer abends um fünf noch an, doch der leichte Wind erzeugt einen Hauch von Frische. Jonas Klumpp nimmt den Berichterstatter auf und los geht‘s über Waldwege zu einem Hochsitz irgendwo im Nirgendwo, den er sich für den heutigen Abend ausgewählt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt hat er bereits sehr viele Kilometer mit seinem Auto im Kreuz, denn der Alltag eines Berufsjägers in Diensten der Nationalparkverwaltung hat nicht nur mit dem romantischen Bild eines naturverbundenen Menschen zu tun, der mit seinem Hund durchs Dickicht streift. Zahlreiche Hochsitze und andere Jagdeinrichtungen müssen auf einer Gesamtfläche von 3.200 Hektar inspiziert werden. So groß ist der Revierteil, den Klumpp im Nationalparkgelände zu verwalten hat. Die Kilometerfresserei wird auch dadurch verstärkt, dass der 27-Jährige, der erst seit 1. August dieses Jahres eine Festanstellung erhalten hat, das Revier kennenlernen muss. „Mir fehlt noch die räumliche Kenntnis, aber auch der Überblick, wo läuft das Wild und warum.“
Dies ist aber die wichtigste Voraussetzung überhaupt, denn letztendlich gibt das Berufsbild klar vor: „Berufsjäger“, heißt es in den Statuten des Bundesverbands, „erhalten eine artenreiche und gesunde Tierwelt in ihrem Revier, pflegen und sichern deren Lebensgrundlagen und regulieren den Wildbestand durch eine ökologische, die Belange des Tierschutzes berücksichtigende Jagd.“ Heißt zu gut deutsch: man sollte wissen, an welchen bevorzugten Plätzen vor allem die Rothirsche stehen, um regulierend eingreifen zu können. „Wir haben Vorgaben des Ministeriums für Ländlichen Raum, einen sogenannten Abschussplan, den wir pro Jahr erreichen sollten“, sagt Klumpp. Dennoch gilt es auch hier bestimmte Regeln zu beachten. Hirsche, die älter als drei Jahre sind, werden nicht erlegt; und die Mutter nie ohne das Jungtier. Klingt hart, und Klumpp weiß sehr wohl, dass die Jagd als solche einen zwiespältigen Leumund besitzt und das Bild vom blindwütigen Trophäenjäger noch in vielen Köpfen sitzt. Er gibt zu, dass ihn das Jagdfieber packt, wenn er auf einem Hochsitz ein abschussfähiges Tier sieht. Es ist im übertragenen Sinn wie bei einem Angler, beidem ein Fisch an der Rute zupft. Spannung und Leidenschaft. Doch geschossen wird nicht aus Freude am Töten, sondern aus der Notwendigkeit heraus. Ist das Tier getroffen, sucht er es und hält kurz inne. Die letzte Ehre erweisen Jäger dem toten Tier mit einem Tannennadelzweig, den sie auf ihm ablegen. „Wenn ich diese Ehrfurcht verliere, höre ich sofort auf“.
Das ist nicht zu erwarten, denn Jonas Klumpp ist durch und durch mit der Natur verbunden. Schon zu Schulzeiten hat sich der Baiersbronner nach den Hausaufgaben sofort in den Wald verabschiedet und den Großteil seines Lebens dort verbracht, wo andere Urlaubstage verbringen. Nach der Mittleren Reife absolvierte er eine Zimmermannslehre und arbeitete noch weitere sechs Jahre als Geselle in diesem Lehrbetrieb. Auch hier war der Umgang mit einem natürlichen Werkstoff treibende Kraft. Die Jagd an sich war ihm nicht in die Wiege gelegt worden – die Eltern sind Sozialpädagogen – doch der Vater eines Freundes brachte ihn auf die Spur. „Er ist ein Jäger wie aus dem Lehrbuch“, erinnert sich Klumpp, „Rauschebart, Hund und Büchse.“ Der Bilderbuchjäger nahm ihn mit – einmal, zweimal, vielmals. Jetzt gab es kein Halten mehr, der Waldmensch Klumpp hatte sein Revier gefunden. 2015 machte er den Jagdschein und 2019 nahm sein Lebenszug endgültig eine entscheidende Richtung. Der Nationalpark Schwarzwald schrieb erstmals überhaupt eine Ausbildungsstelle zum Revierjäger aus. Klumpp zauderte zunächst, fragte seinen Chef in der Zimmerei um Rat, erhielt dort „schweren Herzens“ (Klumpp) Unterstützung und bewarb sich erfolgreich.
Seine Ausbildung erfolgte in der Nationalparkverwaltung in der Abteilung Wildtiermanagement und als Blockunterricht im Beruflichen Schulzentrum in Traunstein. Die Themenblöcke, die es zu beackern gilt, sind vielschichtig und geben den Blick frei auf einen höchst anspruchsvollen Lehrberuf. Die Bandbreite reicht von Wildschadensverhütung über Waffenkunde, im weitesten Sinne Schlachterkenntnisse, die für das fachgerechte Zerlegen und Ver werten des Wildbrets erforderlich sind, die wichtige Wechselwirkung zwischen Jagdbetrieb und Land- und Forstwirtschaft und natürlich der Haltung, Ausbildung und Führung von Jagdhunden. Nicht zu vergessen sind eine ganze Reihe ökologisch und ökonomisch bedeutender Begleitumstände dieses Berufs und eine professionalisierte Öffentlichkeitsarbeit. Die Branche weiß um den Nachholbedarf in dieser Frage und will das Bild des Jägers durch Information und Aufklärung zurechtrücken. Insofern ist es Klumpp wichtig zu erklären, dass jedem erlegten Tier das Geweih abgesägt wird, um Trophäensammeln zu verhindern, und das Wildbret an einen Wildhändler oder aber an die regionale Gastronomie veräußert wird.
Die Jagd im Nationalpark findet in erster Linie am Randbereich zu den angrenzenden Wirtschaftswäldern statt. Ziel des Wildtiermanagements ist es, die Jagd auf 75 Prozent der Nationalparkfläche gänzlich einzustellen. Dort soll kein Baum gefällt und kein Tier mehr erlegt werden. Auf den verbleibenden 25 Prozent, der sogenannten Managementzone, muss man dann zum Schutz der angrenzenden Wirtschaftswälder umso effektiver und professioneller jagen. Ein Grund, warum der Nationalpark hier auf die Einstellung von Berufsjägern setzt.
Dass es mit Beginn der Ausbildung keine Übernahmegarantie des Nationalparks gegeben habe, sei heute geschenkt. „Ich habe einfach nur gehofft, dass es klappt“, sagt Klumpp, der am 1. August seine Unterschrift unter den Vertrag setzte. Für ihn, so scheint’s, ist es das große Los gewesen. „Ich kann total eigenständig arbeiten und mich in die Entwicklung des Nationalparks im Bereich Wildtiermanagement komplett einbringen“. Nur fünf Monate im Jahr ist die Jagd erlaubt, danach folgt Teil 2 einer „unglaublich interessanten Tätigkeit“. Monitoring, das Besendern von Tieren, wissenschaftliche Zuarbeit. „Total vielseitig und spannend.“
Der Ansitz, wie es im Jägerjargon heißt, ist aber das Lebenselixier des Jonas Klumpp. Hier findet er zu sich selbst und kann die zurückgelegten Kilometer des Tages vergessen. Teilweise geht er morgens und abends, und bei der Frage nach der Freizeitgestaltung, winkt er nur ab. „So wie es ist, passt es“, sagt Klumpp, und man spürt, dass die Grenze zwischen Freizeit und Arbeit bei ihm verwischt. So sitzen wir also an diesem spätsommerlichen Traumtag irgendwo im Nirgendwo des Nationalparks und harren der Dinge. Den Stadtmenschen an seiner Seite packt nach zweieinhalb Stunden ein wenig die Ungeduld. Nichts zu sehen. Doch dann betritt ein Rehbock mit schönem kleinen Geweih die Szenerie. Er äst mit Wonne, doch Jonas Klumpp lässt das Gewehr unberührt. „Rehe stehen nicht auf unserer Liste, und würde ich jetzt schießen, wäre dieser Platz für die nächsten Wochen verwaist.“ So ein Abschuss spricht sich rum – auch bei Wildtieren.