Ministerpräsident Winfried Kretschmann sieht keinen Widerspruch zwischen der Wildnis eines Nationalparks und der Wirtschaftskraft eines hoch entwickelten Landes wie Baden-Württemberg. Ihm als Biologen und Parteimitglied der Grünen liegt natürlich viel am Natur- und Artenschutz. Aber er hält die unberührte Natur und ihre landschaftliche Schönheit auch für wichtige positive Standortfaktoren.
Auf Ihrer Homepage sagen Sie, die Gründung des Nationalparks sei ein Höhepunkt Ihrer bisherigen Amtszeit gewesen. Warum liegt Ihnen dieses Projekt besonders am Herzen?
Winfried Kretschmann: Der Nationalpark ist vor allem deshalb so ein besonderes Projekt für mich, weil er ein wichtiges Signal setzt: Indem wir in unserem dicht besiedelten und technisch hochentwickelten Bundesland ein Stück Natur sich selbst überlassen, entziehen wir es dem allgegenwärtigen Nutzungsgedanken. Im Nationalpark bekommt die Natur die Freiheit, sich selbst zu entfalten. Damit haben wir den Natur- und Artenschutz im Land auf eine ganz neue Stufe gehoben. Dies ist auch deshalb wichtig, da wir uns bei all unserem Wirtschaften und Tun bewusst werden müssen, wo die Grundlagen unseres Lebens, unseres Wohlstandes, ja, unseres geistigen und natürlichen Fundaments herkommen.
In welcher Weise haben Sie sich für die Gründung eingesetzt? Wie sind Sie mit den Widerständen umgegangen?
Kretschmann: Ich wollte vor allen Dingen deutlich machen, dass wir Naturlandschaften nicht gegen Kulturlandschaften ausspielen dürfen. Der Nationalpark stellt auf gerade mal 0,7 Prozent unserer Waldfläche eine sinnvolle Ergänzung zu den ansonsten auch im Schwarzwald vorherrschenden nachhaltig genutzten Wäldern dar. Bei der Einrichtung des Nationalparks haben wir alle eingebunden, die sich konstruktiv in die Debatte eingebracht haben. So haben wir einen Bestandsschutz für Hotels und Hütten oder auch sehr weitgehende Regelungen beim Betretungsrecht ermöglicht. Mit dem Nationalparkrat haben wir gesetzlich verankert, dass die Region auch in Zukunft in alle Entscheidungen einbezogen wird und weiterhin mitentscheiden kann.
Winfried Kretschmann: „Im Nationalpark bekommt die Natur die Freiheit, sich selbst zu entfalten.“
Nun ist der Park seit bald fünf Jahren Realität – wie haben Sie seine Entwicklung seit seiner Gründung begleitet?
Kretschmann: Ich war bei der Eröffnung des Nationalparks im Mai 2014 vor Ort dabei. Dies war ein historisch bedeutsamer Tag für unser Land und auch für mich ein ganz besonderes Erlebnis. Denn mit der Gründung des ersten Nationalparks in Baden-Württemberg sind wir Teil eines weltumspannenden Netzwerks von Nationalparken geworden, das vom Yellowstone-Park bis zur Serengeti-Savanne reicht. Seither habe ich den Nationalpark immer wieder besucht – so etwa im vergangenen Sommer gemeinsam mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier.
Wie und wie stark setzen Sie sich heute noch mit dem Nationalpark auseinander?
Kretschmann: Im Nationalpark finden besonders seltene Tier- und Pflanzenarten einen Lebensraum. Teilweise werden dort Arten erstmals in Baden-Württemberg durch die dortige Forschungsabteilung entdeckt – etwa die Zitronengelbe Tramete, ein weltweit äußerst seltener Pilz. Diese Entdeckungen und die Forschung dazu verfolge ich als Biologe natürlich mit ganz besonderem Interesse. Ich denke auch, dass der Nationalpark – der ja als Entwicklungsnationalpark konzipiert ist – in den kommenden Jahren noch weiter an Faszination gewinnen wird. Je länger die Natur Zeit hat, sich den Wald zurückzuerobern, desto ursprünglicher wird es dort sein. Und desto größer auch der Kontrast für uns Besucherinnen und Besucher, die wir Natur in ihrer wilden Form ja höchstens noch aus dem Urlaub oder aus dem Fernsehen kennen.
Welche Impulse wünschen Sie sich vom Nationalpark für Baden-Württemberg?
Kretschmann: Besucherinnen und Besucher des Nationalparks haben die seltene Möglichkeit, Natur einmal in ihrer ursprünglichen Form und Vielfalt kennenzulernen. Gleichzeitig wird auch deutlich, wie verletzlich diese Natur ist. Und dass diese Verletzlichkeit auch Auswirkungen auf unser eigenes Überleben hat. Dieses Bewusstsein für die natürlichen Lebensgrundlagen und die besondere Bedeutung, die Pflanzen und Tiere für uns haben, kann hier vermittelt werden. Es freut mich deshalb, dass die Führungen und Seminare, die von der Nationalparkverwaltung hier angeboten werden, so große Resonanz erfahren und zum Beispiel zahlreiche Schulklassen immer wieder den Weg in den Nationalpark finden.
„Die Verletzlichkeit der Natur hat Auswirkungen auf unser eigenes Leben…“
Wie stellen Sie sich eine beispielhafte Entwicklung der Nationalpark-Region vor?
Kretschmann: Uns war von Anfang an wichtig, dass der Nationalpark auch ein Impulsgeber für Wirtschaft und Tourismus in der Region ist. Erste Zahlen und Umfragen der Forschungen im Nationalpark zeigen hier eine positive Tendenz, etwa bei den Übernachtungszahlen. Für viele Besucherinnen und Besucher aus dem In- und Ausland ist der Nationalpark ein Grund, um den Schwarzwald zu besuchen.
Mit seinem Motto „Natur Natur sein lassen“ wirbt der Nationalpark für einen zurückhaltenden Umgang mit der Natur. Sehen Sie weitere Bereiche, räumlich oder thematisch, in denen uns etwas mehr Zurückhaltung gut tun würde?
Kretschmann: Tatsächlich sehe ich einige Bereiche, in denen uns etwas mehr Entschleunigung gut tun würde. Eine solche Ethik der Zurückhaltung würde uns in vielen Bereichen – auch in der Politik und Gesellschaft – gut tun. Ein ganz konkretes Beispiel ist der Umgang mit dem Essen:
Immer mehr Menschen legen heute Wert auf die Verwendung regionaler und saisonaler Lebensmittel, alte Obstsorten und Kochrezepte werden wieder entdeckt. Aus meiner Sicht ist dies eine positive Entwicklung, die zeigt, dass Zurückhaltung nicht nur die Natur schont, weil beispielsweise kürzere Transportwege notwendig sind, sondern auch für uns Menschen gewinnbringend ist.
„Wir investieren so viel wie noch nie in den Naturschutz.“
Baden-Württemberg als hochindustrialisiertes Land – wie passen High-Tech und Wildnis – wie man sie in einem Nationalpark findet – zusammen? Ist dies ein Widerspruch? Gefährdet dies oder fördert dies den Wohlstand?
Kretschmann: Natürlich sind High-Tech und Wildnis zwei völlig unterschiedliche Dinge. Dennoch sehe ich hier keinen Widerspruch. Der Nationalpark umfasst eine Fläche von gut 100 Quadratkilometern. Ganz Baden-Württemberg hat eine Fläche von über 35.000 Quadratkilometern. Insofern mache ich mir keine Sorgen darum, dass unser Wohlstand gefährdet ist. Es ist auch künftig genug Platz im Ländle für High-Tech. Im Übrigen stellen auch die Unberührtheit der Natur und ein schönes Landschaftsbild heute zunehmend wichtige Standortfaktoren dar.
Baden-Württemberg ist Lebensraum für rund 50.000 Tier- und Pflanzenarten, 40 Prozent davon sind mittlerweile gefährdet. Was tut die Landespolitik, um die biologische Vielfalt im Land zu erhalten und zu fördern? Welche Rolle spielt hierbei der Nationalpark?
Kretschmann: Mit dem Nationalpark Schwarzwald und der Einrichtung des Biosphärengebiets Schwarzwald haben wir ja bereits in der letzten Legislaturperiode wichtige Zeichen für den Artenschutz und die Biodiversität in unserem Land gesetzt. Gleichzeitig investieren wir so viel wie noch nie in den Naturschutz. Damit haben wir den Naturschutz vom Rand ins Zentrum der Politik gerückt. Um darüber hinaus einen Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt zu leisten, haben wir im vergangenen November ein bundesweit einmaliges Sonderprogramm zur Stärkung der biologischen Vielfalt auf den Weg gebracht. Die Maßnahmen sind vielfältig:
Es geht um Reduktion des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln, eine bessere Biodiversitätsberatung für Landwirte, den Moorschutz, die verbesserte Pflege der rund 1.000 Naturschutzgebiete im Land, die ökologische Aufwertung des Straßenbegleitgrüns oder die Wiedervernetzung von Lebensräumen für bedrohte Tierarten.
„Der Nationalpark ist Impulsgeber für Wirtschaft und Tourismus.“
Welche Entwicklung und Zukunft wünschen Sie sich für den Nationalpark?
Kretschmann: Ich wünsche mir, dass im Nationalpark in den kommenden Jahren noch mehr seltene Tier- und Pflanzenarten einen Lebensraum bekommen. Ich wünsche mir auch, dass viele Besucherinnen und Besucher hier einen Einblick in die Ursprünglichkeit der Natur erhalten und dabei Kraft und Erholung finden können. Nicht zuletzt wünsche ich mir, dass Wirtschaft und Tourismus in der Region vom Nationalpark profitieren und sich natürlich auch die Bewohnerinnen und Bewohner des Schwarzwaldes weiterhin hier zuhause fühlen. Denn der Nationalpark ist etwas ganz Spannendes. Er ist keine Reise zurück in die Vergangenheit, sondern ein Aufbruch in die Zukunft.
Haben Sie einen oder mehrere Lieblingsplätze im Nationalpark?
Kretschmann: Ich komme viel zu wenig in den Nationalpark, um die Stille und Ruhe dort erfahren zu dürfen. Meist sind es offizielle Anlässe, die mit Ruhe eher wenig zu tun haben. Aber bei einem privaten Spaziergang bewegte mich der Blick vom Eutin-Grab in das Schönmünzachtal. Auch die nicht ganz einfache Wanderung zum Wilden See und der Wilde See an sich sind mir in guter Erinnerung geblieben. Dieser See lädt einfach ein zum Nachdenken über sein Tun, sein Handeln und den Sinn des Lebens.