Wo sich Stille neu definiert
Von welchem Tier könnte diese Losung stammen? Wildnispädagogin Svenja Fox und ihre kleine Truppe beäugen aufmerksam das kleine Häufchen auf dem Waldweg. „Schau mal, das ist so komisch lila“, sagt Miguel (4) und stupst seinen Freund Aviel (5) auffordernd in die Seite. Gestik und Handzeichen von Aviels Vater Andreas deuten den Fund als Hinterlassenschaft eines Fuchses, der Heidelbeeren gefressen hat. Svenja Fox gebärdet zustimmend. Kurz zuvor hat sich das 10-köpfige Grüppchen vom Ruhestein aus aufgemacht, um einen Tag und eine Nacht die Waldwildnis im Nationalpark in Gebärdensprache (DGS) zu erleben.
Die Gruppe um Svenja Fox könnte unterschiedlicher kaum sein. Außer ihr sind mit Barbara Klünder und der Berichterstatterin zwei hörende Erwachsene vertreten. Franco (32) und Waldemar (44) leben in einer Wohngruppe für hörgeschädigte Erwachsene. Ihre Betreuerin Barbara hat ihnen das Waldwildnis-Erlebnis im Nationalpark „geschenkt“: „So eine Unternehmung ist gut gegen Einsamkeit. Die Welt der Gehörlosen ist klein. Hier lernen sie neue Menschen und auch Gebärden kennen.“
Agatha stammt aus der Umgebung, eine gehörlose junge Frau, deren Lächeln und strahlende Augen eine eigene Sprache sprechen. Nach mehreren DGS-Führungen mit Svenja Fox ist sie neugierig auf ein neues „Abenteuer“ abseits des Alltags und auf die Begegnung mit fremden Menschen. Die beiden gehörlosen Familienväter Andreas und Vadim sind mit ihren hörenden Söhnen Aviel und Miguel extra aus München angereist. Nicht zu vergessen „Froschi“ und „Schweinchen“, zwei putzige Plüschhandpuppen, die Svenja Fox den beiden Jungs als „eure Begleiter“ vorstellt.
Inzwischen wandert die Gruppe über Stock und Stein auf dem Seensteig. Kleine Pausen dienen dazu, die Blattformen und Pflanzenstrukturen von Heidel- und Preiselbeeren zu vergleichen. Im gestenreichen Pingpong wird der Unterschied zwischen Nationalpark und Naturpark erläutert, die Bedeutung von Prozessschutz an konkreten Beispielen festgemacht. Die Einschränkungen beim Heidelbeersammeln werden ebenso erklärt wie das Nationalpark-Prinzip „Natur Natur sein lassen“: Ein kleines Fleckchen Erde sich selbst zu überlassen ohne menschlichen Eingriff in den Lebenskreislauf von Pflanzen und Tieren.
Menschliche Laute sind hier rar. Umso beredter sind die lautlosen „Gespräche“ innerhalb der Gruppe, in die immer wieder unvermittelt die fröhlichen Stimmen von Aviel und Miguel blitzen. Kommunikation erfolgt sowohl über die Gebärdensprache und Lippenlesen als auch über das Fingeralphabet. In der Mimik zu „lesen“ und von den Lippen, aber gleichzeitig auch dem Fluss der Gebärden, insbesondere der Hände, zu folgen, ist spannend und anstrengend zugleich.
Dem Hörenden eröffnet sich langsam, aber fast wie von selbst eine neue visuelle Welt. Wo Stille beredt ist und sich neu definiert. Auch ganz spielerisch zwischen den auf dem Weg in Abständen ausgelegten Schildern: Was sehen deine Augen und welche Farben? Wie fühlt sich die Luft an? Wie der Boden unter deinen Füßen? Welche Geräusche nimmst du wahr? Sinnesreize und -eindrücke entfalten sich in dieser unberührten Landschaft umso intensiver. In der Stille wird die Wahrnehmung geschärft. Wie vielfältig doch Grüntöne sein können, wie leuchtend die orangefarbenen Beeren der Eberesche! Eine leichte Brise streichelt die Haut. Das Federn der eigenen Schritte, das Zirpen der Grillen, der krächzende Warnruf des Eichelhähers, Dankbarkeit stellt sich ein angesichts des eigenen Hörvermögens.
Selten haben Brot, Käse und Gurke besser geschmeckt als beim „wilden“ Picknick in der Waldwildnis kurz vor dem Seibelseckle. Miguel und Aviel sind schon wieder auf Naturerkundungstour. Die rote Waldameise in ihrer Becherlupe wird eingehend betrachtet und dann sofort wieder in die Freiheit entlassen. Mühelos wechseln die beiden Knirpse die „Sprache“. Mit den Hörenden sprechen sie für ihr Alter erstaunlich gewählt, während sie mit ihren gehörlosen Vätern genauso selbstverständlich gebärden.
Auf einem verschlungenen Pfad haben wir das Naturcamp auf einer Waldlichtung erreicht. Idylle pur, einzig das Plätschern eines Baches dringt ins Ohr. Den schweren Rucksack ablegen, kaltes Bachwasser im Gesicht spüren, ankommen, sich im Wald daheim fühlen. Nach der mehrstündigen Wanderung ist das gemeinsam zubereitete Couscous-Gemüse-Gericht ein Genuss. Wie ein schützendes Dach legt sich die Dämmerung über lachende, zufriedene, gelöste Gesichter. Unter dem Sternenhimmel, kurz vor dem Einschlafen, wiederhole ich noch einmal zwei Gebärden: Gute Nacht! Und höre den Wald atmen…
Svenja Fox, die das Wohlergehen jedes einzelnen so umsichtig wie sensibel stets im Blick hat, ist am nächsten Morgen als erste auf den Beinen. Geweckt werden mit dampfendem Kaffee – welch ein liebevoller Luxus! Seit August 2016 bietet die studierte Wildnispädagogin im Nationalpark Schwarzwald Führungen und Exkursionen in Gebärdensprache an. Ihre Freude an ihrer Arbeit überträgt sich nahtlos auf die Gruppe. Die in eineinhalb Tagen zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen ist. Begriffe wie Stille-Wahrnehmung-Hören sind mit einem eindrücklichen Perspektivwechsel einhergegangen. Das Gefühl, der Natur nahe zu sein und doch ganz bei sich, auch mit anderen, wurde intensiv greifbar. Svenjas „Nachdenk“-Fragen wie „Was bedeutet Glück?“, „Wie viel ist genug?“ fanden Antworten. Fünf hörende und fünf gehörlose Menschen haben in der Waldwildnis des Nationalparks unverfälschte Glücksmomente erleben dürfen.
Auge ersetzt das Ohr
Der Mensch hat fünf Sinne. Für gehörlose Menschen ist der Sehsinn am wichtigsten. Denn ohne bewusste, konzentrierte Wahrnehmung über das Auge ist Gebärdensprache nicht zu verstehen. Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist die visuell-manuelle Sprache, in der gehörlose und schwerhörige Menschen in Deutschland untereinander und mit Hörenden kommunizieren. Es gibt die Gebärdensprache zwar schon sehr lange, offiziell anerkannt wurde sie in Deutschland aber erst 2002. Der Begriff CODA wiederum ist die Abkürzung für Children of deaf adults (auf Deutsch: Kinder von gehörlosen Eltern). Ein CODA ist ein hörendes Kind von gehörlosen Eltern. Sie kommunizieren mit ihrem Kind meist in der Gebärdensprache, der Muttersprache für ein CODA-Kind. Gleichzeitig erlernt es auch die Lautsprache und wächst somit zweisprachig auf.