Wie wird aus einem Wirtschaftswald ein „Urwald“? Über diese Frage, über Schritte zurück zu einer Wildnis, über Zuständigkeiten, falsche Narrative, den Faktor Zeit und den Auftrag an unsere Generation hat die Redaktion des Nationalpark-Magazin mit Professor Dr. Rainer Luick gesprochen.
Qua Definition ist ein Urwald ein Ökosystem, das sich vom Menschen unberührt über einen sehr langen Zeitraum entwickeln konnte – bestenfalls seit der letzten Eiszeit bei uns in Europa. „Bei uns gibt es nur noch vereinzelt und dann sehr kleine Waldrefugien, die nie kahlgeschlagen worden sind, die noch standorttypische Baumarten und eine vielfältige Vegetation zeigen“, sagt Rainer Luick. Als Beispiele für Baden-Württemberg benennt der Wissenschaftler Gebiete in steilem, unzugänglichem Gelände wie am Südabfall des Belchen, aber auch Waldreste an manchen Mooren wie in Oberschwaben und im Schwarzwald. Diese letzten Bastionen wilder Natur zu schützen, andere Wälder möglichst sinnvoll zu nutzen, auch Flächen aus der Nutzung zu nehmen und der Natur zurückzugeben, darin sieht Luick den Auftrag unserer Generation. „Dadurch gewinnen wir zwar keine Ursprünglichkeit zurück, aber wir können zu urwaldähnlichen Strukturen gelangen.“ Über das „Wie“ gäbe es keine allgemeingültige Formel – aus diversen Gründen:
Eine Frage der Zuständigkeite
Normativer Naturschutz in Deutschland bezieht sich auf offene Kulturlandschaften und endet normalerweise am Waldrand. Denn für die Wälder ist die Forstverwaltung und deren Gesetzgebung verantwortlich. „Diese traditionelle Trennung war mit ein Grund dafür, weshalb es so lange gedauert hat, bis Baden-Württemberg seinen Nationalpark einweihen konnte“, erinnert sich Luick. Denn mit der Entscheidung für den Nationalpark wurde nicht nur in den Wald eingegriffen, sondern auch in Zuständigkeiten. Im Grunde ist der Begriff Nationalpark per se irreführend. Denn im Gegensatz zu anderen Ländern auf der Welt weisen in Deutschland die Bundesländer Nationalparke aus und nicht der Bund. Deren Gesetzgebung ist richtungsweisend für die Schutzgebiete auf ihren Flächen. Jedes Bundesland entscheidet über sein eigenes Parkmanagement, also darüber, was man macht und was man lässt. Die Maßnahmen divergieren deutlich. Der Nationalpark Bayerischer Wald verfolgt zumindest im Ursprungsgebiet das Ziel, nicht in den Prozess einzugreifen, egal was passiert. Das ist im Nationalpark Schwarzwald bisher nur in den Kernzonen umsetzbar, nicht aber in der Managementzone und einem Korridor, der die Nationalparkfläche von den angrenzenden Wirtschaftsflächen trennt. Im Nationalpark Eifel werden in bestimmten Bereichen sogar nichtheimische Bäume geräumt und die angenommenen standorttypischen Baumarten gepflanzt. Der Nationalpark, der Luicks Ansicht nach die Zielsetzung eines solchen Schutzgebietes hierzulande am eindrucksvollsten lebt, ist der Hainich in Thüringen. Er wurde 1997 gegründet und ist Deutschlands einziger Nationalpark, der fast 70 Prozent Prozessschutz erreicht. Dort haben sich bereits Strukturen ausgebildet, die Urwaldcharakter haben. Luick: „Der Hainich hat aber auch das geschichtliche Glück, dass dort großflächig die natürliche Baumartenzusammensetzung erhalten geblieben ist.
Eine Frage des Terrains
Eine Frage des Terrainseutschland ist dicht besiedelt, geeignete Kulissen für Nationalparke gibt es kaum. Die Bundesländer nutzen Flächen, die verfügbar, im besten Fall schon in Landesbesitz sind. Das sind nicht immer diejenigen, die mit Blick auf standorttypische Vielfalt oder Reste alter Wälder am günstigsten gewesen wären. In Baden-Württemberg kam dafür eigentlich nur ein Gebiet in Frage: der Nordschwarzwald. Historisch betrachtet ist er kein Fichtenwald. Vor 200 Jahren war er sogar weitgehend kahlgeschlagen; die offenen Grinden sind dafür noch Zeugnisse. Allein den Altvorderen sei es zu verdanken, so Luick, dass auf den damals völlig devastierten Flächen wieder Wälder aufgebaut worden seien. Erfolgt ist das nach Methoden ihrer Zeit und mit dem damals verfügbaren Saatgut und Pflanzmaterial. Das waren schnellwachsende Hölzer, Nutzhölzer – und damit hauptsächlich Fichten in der Mitte und im Süden von Deutschland. „Der Nordschwarzwald wird vorerst von Fichten dominiert bleiben – auch im Klimawandel“, so der Wissenschaftler, „und über viele Generationen hinweg werden dort vermutlich nur langsam die vor 500 bis 1000 Jahren standorttypischen Arten wie Buchen und sehr viel mehr Weißtanne wachsen“.
Eine Frage der Zeit
Neben den bereitgestellten Flächen ist also Zeit der entscheidende Faktor, um aus einem Wirtschaftswald einen wilden Naturwald werden zu lassen. Es der Natur zu überlassen heißt aber auch, weder Zeit noch Ort zu kennen, in denen Ereignisse eintreten. Wer nicht warten kann, der fange an zu basteln, um Strukturen, wie sie zu alten Wäldern gehören, künstlich herbeizuführen, sagt Luick. Ein Phänomen, das in Nordamerika weit verbreitet sei: Bäume werden gesprengt, um Sturmschäden zu simulieren, mit der Seilwinde aus dem Boden gezogen, um zu suggerieren, eine Windböe habe sie entwurzelt, oder geringelt, um Totholzstrukturen zu schaffen, die sich noch nicht einstellen wollten. Diese Methoden des sogenannten „Retention Forestry“ werden von manchen Ökologen hierzulande begrüßt. Luick sieht eine derart „geplante Wildnis“ kritisch, freut sich über Überraschendes. Er wünscht sich jedenfalls in allen Nationalparken einen stärker kompromisslosen Prozessschutz mit Einbeziehung der Wirkungen von Wildtieren, denn das sei unser Vermächtnis an die Zukunft.
Vergangenheit als Vorbild
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es einzelne charismatische Persönlichkeiten, die z.B. im Schwarzwald erreicht haben, dass kleinflächig ihnen wichtige Orte aus der Nutzung genommen und geschützt wurden. Dazu gehören im Nordschwarzwald die Karmulde des Wildsees beim Ruhestein und der Wildsee-Moorkomplex am Kaltenbronn. Erwähnenswert ist auch der Bannwald am Federsee in Oberschwaben. „Diese Menschen konnten nicht ahnen und erfahren, was für ein Geschenk sie uns hinterlassen haben, aber sie hatten eine Vision davon“, so Luick. Große Strukturen brauchen eben ihre Zeit, um zu wachsen. Etwa ein Baum. Doch im Kleinen dagegen gäbe es schon nach zehn bis zwanzig Jahren viel zu sehen. Naturnahe Wirtschaftswälder und Urwälder, auch Wälder mit Prozessschutzcharakter, sind alle für den Naturschutz wichtig.
Was noch eine Rolle spielt
Wie sich das Klima, wie sich Wetterphänomene oder der Grundwasserspiegel verändern und auf die Fläche auswirken, nimmt ebenso Einfluss auf die Transformation eines Waldes wie die Tatsache, ob dort gejagt wird. „Wie aus einem Wirtschaftswald ein Naturwald wird, lässt sich also weder pauschalisieren noch erzwingen“, resümiert der Biologe und Ethnologe. Außerdem trete nicht auf jeder Fläche etwas Spektakuläres ein, auch wenn wir Menschen immer das Spektakuläre in der Natur suchten, so Luick. Er hält es auch für richtig, dass Nationalparke Attraktionen wie Baumwipfelpfade schaffen oder gezielt „Wildnis- und Erlebnisparcours“ anlegen, um Besucher mit guter Pädagogik und Information an das Thema Prozessschutz heranzuführen. So werde die Akzeptanz für und die Relevanz von Naturschutz gefördert. Das sei grundsätzlich gut, doch auch hier wäre es Luick gleichbedeutend wichtig, man würde weniger bedienen und noch mehr erziehen – etwa zu Geduld.
Prof. Dr. Rainer Luick
Seit 1999 hat er die Professur für Natur- und Umweltschutz an der Hochschule für Forstwirtschaft in Rottenburg inne. Derzeit koordiniert er ein von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) finanziertes internationales Forschungsprojekt, das noch nicht kartierte, ungeschützte Natur- und Urwälder in den rumänischen Karpaten identifiziert. Ziel ist es, möglichst viele dieser Flächen in den „Nationalen Katalog der Urwälder“ aufzunehmen und somit vor der Abholzung zu retten.