Auswanderung als politische Lösung vor sozialer Not
In einer Zusammenfassung seiner Recherche-Erkenntnisse schreibt Herzog: „Der Ruf der Neuen Welt lockte schon im 17 Jahrhundert Auswanderer aus Baden nach Nordamerika. Die Anzahl der Emigranten hielt sich jedoch meist in engen Grenzen, was den schlecht entwickelten Transpormöglichkeiten und der kaum vorhandenen Erschließung von Siedlungsland geschuldet war. Erst ab den 1840er Jahren waren die Voraussetzungen geschaffen, Migranten in größerer Zahl, um nicht zu sagen in Massen, nach Nordamerika zu verbringen. DieErfindung der Dampfmaschine, die in Eisenbahnen und Dampfschiffen Verwendung fand, der zunehmende Ausbau von Verkehrswegen, der Aufbau von Schiffs- und Hafenkapazitäten und großflächige Landnahme und Verkehrserschließung vor Ort hatten dies möglich gemacht.
In dieser Epoche, erklärt Herzog, habe sich nachweisbar ein extremes Umdenken bei den politischen Entscheidungsträgern breit gemacht. Als Folge der in Friedenszeiten nach 1815 stark angestiegenen Bevölkerungszahl und vor allem infolge mehrerer Missernten ab 1846 sei die Bevölkerung in Baden und speziell in den Höhenlagen des Schwarzwaldes zunehmend in Not geraten. Herzog: „Verdienstmöglichkeiten und verfügbare Nahrungsquellen standen im Missverhältnis zur Anzahl der Bewohner, und der Druck, Lösungen zu finden, wurde durch Protestbewegungen und die Revolutionen ab 1848 noch zusätzlich erhöht.“ Deshalb sei die Reduzierung der Bevölkerung durch Auswanderung immer mehr ins Blickfeld der badischen Regierung gerückt.
Wie Herzogs Recherchen ergaben, zeugt vor allem eine Denkschrift des badischen Geheimrats Karl Friedrich Nebenius, die er am 3. Juli 1847 der badischen Regierung vorstellte, vom radikalen Umdenken. Darin war gefordert worden, dass der Staat die schlimmsten Auswüchse der Übervölkerung einzelner Gemeinden und die damit verbundene Auswanderungswelle in geregelte Bahnen lenken und die Leitung dieser Migrationsbewegung übernehmen sollte. Im Sinne der Fürsorge müsste sich der Staat, wenn nötig, direkt um die Organisation und Finanzierung dieser Auswanderung kümmern und dafür sorgen, dass die meist mittellosen Landsleute eine reale Chance bekamen, sich eine neue Existenz aufzubauen. Auswanderungspolitik sollte nicht mehr wie bisher dazu dienen, Auswanderung zu verhindern, sondern zu ermöglichen und dafür zu sorgen, dass die Badener in fremden Landen gute Startbedingungen vorfanden.
Eine Auflistung notleidender badischer Gemeinden und Kolonien wurde erstellt und ab 1849 systematisch damit begonnen, staatlich geleitete und finanzierte Auswanderungen zu organisieren und durchzuführen. Das Zentralbüro des damals dafür zuständigen badischen Zweigvereines für Deutsche Auswanderung in Karlsruhe sorgte für die Organisation, Begleitung und Sicherung der Transporte unter Beteiligung der badischen Konsuln in Übersee, und die Regierung stellte die Beauftragung und die Finanzierung sicher. In Übersee angekommen, wurden die Auswanderer mit einem Handgeld versehen, das die Weiterfahrt und den Start in der neue Heimat ermöglichen sollte.
Was bedeutete dies für die damaligen Waldkolonien Herrenwies und Hundsbach? Wie Herzog, dessen Urgroßvater aus Hundsbach stammte, erkundete, seien die guten Zeiten der eigens zur Waldausbeutung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründeten Kolonien Mitte des 19. Jahrhunderts längst vorbei gewesen. Danach waren die besten Waldstücke abgeholzt und die Bevölkerung von anfangs ca. 200 Personen auf bis zu 780 Personen im Jahr 1830 angewachsen. Mehrere Missernten ab 1846 verschlechterten die Ernährungsgrundlage dramatisch. Als im August 1849 in Herrenwies vier benachbarte Häuser abbrannten und vier Familien ihr Heim verloren, entschloss sich die badische Regierung auch in den Waldkolonien zum Handeln. Es betraf die Familien von Michael und Lukas Herrmann, Dionys Bäuerle und Leopold Meier, also insgesamt 26 Personen. Im April 1850 wurde deren Auswanderung vom Großherzog Leopold persönlich genehmigt und die Kosten dafür übernommen. Die Archive belegen, dass die Auswanderung dieser vier Familien am 15. Mai 1850 morgens früh um 5 Uhr begann und im Juli 1850 wohlbehalten in New York ihr vorübergehendes Ende fand. Von dort aus reisten die Schwarzwälder an ihre endgültigen Ziele weiter; die Brüder Herrmann nach Manitowoc in Wisconsin, und die Bäuerles und Meiers nach Rome und West Leyden in New York.
Damit hatte der Staat erstmals in Herrenwies die Kosten und die Organisation von Auswanderungen übernommen. Weitere Unterstützungen dieser Art waren in den Waldkolonien zunächst nicht beabsichtigt.
Aufgrund der Misere der Waldkolonien und der großen Nachfrage habe sich eine größere Zahl von Auswanderungen jedoch nicht vermeiden lassen. Man habe schließlich seitens der badischen Regierung eingesehen, dass es auf lange Sicht keinen anderen Ausweg gebe, als die Anzahl der Kolonisten zu reduzieren, sagt Herzog. Verschuldung und Verelendung grassierte ohne Aussicht auf Besserung. Der Staat befürchtete eine Explosion der Sozial-Folgekosten. Und da Herrenwies und Hundsbach lediglich einen Koloniestatus hatten, gab es auch keine Gemeindekasse, die dafür hätte aufkommen können.
Von 1851 bis 1853 sind daher noch einmal 270 Bewohner der Waldkolonien in drei Schüben auf Staatskosten ausgewandert. Ausgesucht wurdenmit Priorität Frauen mit unehelichen Kindern, junge unverheiratete Personen, verarmte Familien und Empfänger von Unterstützungsleistungen. Verglichen mit dem Stand von 1849 hatte sich damit die Anzahl der Bewohner innerhalb von vier Jahren auf etwa die Hälfte reduziert. Die Chancefür die zurückgebliebenen Einwohner.
Soweit es sich das heute noch nachvollziehen lässt, haben sich die meisten Auswanderer aus den Waldkolonien Herrenwies und Hundsbach in Nordamerika erfolgreich etablieren können, was ihnen, so Herzog, in ihrer alten Heimat höchstwahrscheinlich nicht gelungen wäre. Im Zuge der sogenannten Kettenauswanderungen konzentrierten sich die Familien an wenigen Orten, wo sie sich gegenseitig geholfen und auch untereinander geheiratet haben. Etwa 60 Prozent der Auswanderer aus den Waldkolonien sind in Wisconsin gelandet, etwa 20 Prozent inNew York und die restlichen in Ohio und Texas. Herzog: „Die meisten Immigrantenfamilien haben sich nacheiniger Zeit in ihrer neuen Heimat Land kaufen und sich als Farmer betätigen können. Viele ihrer Nachkommen leben heute noch in der Gegend, wo sich ihre immigrierten Vorfahren einst niedergelassen haben.“
Da sich nach dem ungewöhnlichen politischen Handeln in Baden die Lage spürbar entspannte und gute Ernten in der Landwirtschaft für reichlich Nahrung sorgten, konnten die staatlichen Unterstützungsgelder ab 1855 stark reduziert und auf Einzelfälle beschränkt werden. „Bei allen menschlichen Härten, die das Verlassen der Heimat mit sich brachte, hat die staatlich unterstützte Auswanderung letztlich ihren Zweck erfüllt und allen genützt“, fasst Herzog zusammen. „den Ausgewanderten, die auf sicherem Weg eine neue Heimat und dort ihr Auskommen fanden; den Daheimgebliebenen, die von der verminderten Zahl von Bewohnern und damit von mehr verfügbaren Ressourcen profitieren konnten; schließlich dem Staat, dessen Aufwand zur Armutsbekämpfung und zur Sanktionierung von Eigentumsdelikten sich wesentlich verringerte.“ Trotz dieser vielschichtigen Erkenntnisse ist die Recherche für Wolfgang Herzog damit nicht beendet. Wie eingangs erwähnt: Es ist eine Schnitzeljagd, der er sich weiter verschreibt. In Amerika hat er mit Linda Kortas aus St. Louis übrigens eine Schwester im Geiste gefunden, die ihm bei der aufwändigen Recherche in den Staaten hilft. Auch ihr Mann, geboren in Manitowoc, Wisconsin, hat Vorfahren aus Hundsbach; dies und die Leidenschaft für Ahnenforschung verbindet!
Voraussichtlich im Sommer 2021 werden die Arbeiten des Duos Herzog und Kortas im geplanten Nationalparkhaus in Herrenwies gezeigt. Herzog hofft zudem darauf, dass ihm nach so viel Theorie auch die Möglichkeit gegeben wird, die Praxis zu stärken.
Sein Ziel und Wunsch:
Die Nachfahren aus Herrenwies und Hundsbach in den Staaten aufzusuchen. Für Spannung ist also gesorgt.