Es ist soweit. Mit neun weiteren Besuchern, Rangerin Friederike Schneider und ihrem treuen Hund Akela stehe ich am Nationalparkzentrum. Wir alle haben ein gemeinsames Ziel: den Rothirsch, die Majestät des Waldes, zu entdecken. Mit einer Schulterhöhe von bis zu 1,50 Metern und einem Gewicht von 300 Kilogramm ist er wahrscheinlich die imposanteste Erscheinung, der man in den Wäldern des Nationalparks begegnen kann.
Unsere Ausrüstung: das Wissen unserer Rangerin und ihr feines Gehör. Denn uns geht es heute um den Schrei der männlichen Tiere, das sogenannte Röhren.
Jedes Jahr, wenn sich der Sommer zum Ende neigt, beginnt für die rund 350 Exemplare der hier heimischen Rothirsche die Brunftzeit. Und das tun die männlichen Exemplare mit aller Stimmeskraft kund. Mit langem, tiefem Brüllen verteidigen sie dabei nicht nur ihr eigenes Revier, sondern locken zugleich eine hoffentlich passende Gattin an. Oder aber uns, die neugierigen Teilnehmer der Tour „Das Röhren der Hirsche“. Natürlich ist es nie sicher, dass Besucher auf Lauschpirsch Glück haben. Hirsche röhren nicht auf Bestellung. Aber Rangerin Friederike weiß, wo sie die scheuen und klugen Tiere am ehesten finden wird. Wenn wir mit ihr nicht fündig werden, dann gab es an diesem Tag eben auch tatsächlich nichts zu hören.
Also, dann geht’s jetzt los, hinauf zum Ruhesteingipfel.
Auf dem Weg erleben wir eine erste Überraschung: Eine rund 70 Zentimeter lange, tiefschwarze Kreuzotter schlängelt durch die Wiese. „Ein Weibchen“, flüstert Rike. „Das Schwanzende ist abgerundet. Beim Männchen ist es lang und spitz.“ Wir verharren bei diesem Anblick vorsichtshalber. Denn das elegante Tier ist giftig. Der Biss einer Kreuzotter ist zwar nicht tödlich, hat aber sehr schmerzhafte Folgen, wie Friederike aus eigener Erfahrung nur zu gut weiß. Vorsichtig bewegen wir uns an der Schlange vorbei.
Eine aufregende Begegnung!
Weiter geht es Richtung Wildseeblick. Und nebenbei lernen wir den Rothirsch Stück für Stück kennen. Wortwörtlich. Denn Friederike zieht ein Stück eines Geweihs aus ihrer Tasche. Und zum Vergleich auch das schmälere Gehörn eines Rehbocks. Die Größe sei nicht der einzige Unterschied, erklärt die Rangerin. Während der Rehbock tatsächlich Horn auf der Stirn trägt, handelt es sich beim Hirschgeweih um Knochen. Spätestensals Friederike Exemplare der Unterkiefer beider Tierarten hervorhalt, sind die Größenverhältnisse geklärt.
Es regt sich eine Kindheitserinnerung. War Walt Disneys „Bambi“ nicht ein Rehkitz und sein Vater ein Hirsch?
„Der Bambi-Irrtum“, lacht Friederike. Und erklärt: „In der Buchvorlage des österreich-ungarischen Schriftstellers Felix Salten ist Bambi ein Reh gewesen, das sich bei der Verfilmung durch das amerikanische Filmstudio in einen Weißwedelhirsch verwandelte. Vermutlich, weil es in Amerika keine Rehe gibt.“ Als der beliebte Zeichentrickfilm dann aber ins Deutsche übersetzt wurde, wurde Bambi wieder zum Reh. „Ein grober Fehler, da Bambi im Film einen Schwanz bekommen hat, den aber nur Hirschkälber tragen.“ So sei der in Deutschland weit verbreitete Irrglaube entstanden, dass die Frau des Hirsches das Reh sei.
Das war mal eine wirklich tolle Anekdote, die wir alle sicher bei nächster Gelegenheit mit vor Insiderwissen geschwollener Brust weitererzählen werden. Mittlerweile sind wir auf der Grinde angekommen. Und noch immer haben wir keinen Laut eines echten Hirschs vernommen. Und gesehen? Nein, natürlich nicht. Die scheuen Tiere lassen sich nur selten in der Nähe von Menschen blicken. Friederike zückt jedoch Fotografien aus ihrer Tasche, die eine aufgestellte Fotofalle aufgenommen hat: „Sie sehen – die Hirsche sind wirklich da!“
Und noch gibt sie nicht auf.
„Die brünftigen Hirsche legen Wert auf eine gute Akustik“, erklärt sie. „In einer Karwand hallt das Röhren wie in einem Schalltrichter wider, sodass es auch weit entfernte Hirschkühe hören können.“ Deshalb marschieren wir weiter bis zum Eutinggrab, wo sich uns ein fantastischer Blick auf den Wilden See bietet. Die Sonne ist bereits verschwunden. Das ist der beste Zeitpunkt für diese Führung: Die anbrechende Dunkelheit ist eine beliebte Kulisse für das Konzert der Wildtiere. Und der Anblick des Waldes im letzten Lichtschimmer ist sagenhaft. Fast vergessen wir, warum wir eigentlich hier sind.
Anders als erwartet, ist es dann die ergreifende Stille, die diesen Augenblick einzigartig macht. Die Vögel sind längst verstummt. Nicht einmal Verkehrslärm dringt an unsere Ohren. Ein seltener Zustand. Nach gebannten Minuten beendet Friederike die Tour. „Normalerweise lassen sie sich auf die Entfernung nicht so leicht stören“, meint sie. „Aber vielleicht haben die Hirsche heute auch schon in der Morgendämmerung geröhrt.“
Denn das Röhren sei eine anstrengende Sache, von der wohl auch der stärkste Platzhirsch mal eine Pause benötige. Zwar ist uns heute keine Kostprobe des Röhrens vergönnt gewesen, doch Friederikes Wissen über den Rothirsch und die Begegnungen mit den anderen Waldbewohnern haben die Tour zu einem unvergesslichen Erlebnis gemacht. Einmal mehr wurde mir klar, dass sich in der Natur nichts erzwingen lässt. Und wer weiß. Vielleicht standen die Hirsche die ganze Zeit über still im Gebüsch und haben unseren Rufen gelauscht.
Das Röhren kann man übrigens nachahmen – und damit sogar Wettbewerbe gewinnen. Seht selbst:
Die Nationalpark-Führung „Das Röhren der Hirsche“ wird an folgenden Terminen angeboten:
- Wann? Freitag, 22. und 29. September 2017, jeweils 18 – 20 Uhr und Freitag, 06. und 13. Oktober 2017, jeweils 17 – 19 Uhr
- Wo? Treffpunkt ist am Nationalparkzentrum Ruhestein
- Wer? Neugierige Lauscher ab 10 Jahren
- Anmeldung? Ja, bitte.
- Sonst noch was? Eine Taschenlampe, warme Kleidung und gutes Schuhwerk solltet ihr mitbringen
Diese und alle weiteren Veranstaltungen des Nationalparks findet man auch im Veranstaltungskalender online.
Bilder: Shutterstock/Jamie Hall, Stefan Dangel, Nationalpark Schwarzwald