Raffael Kratzer ist verhalten optimistisch. Das warme, trockene Frühjahr hat der Auerhuhn-Population gut getan. Nach Jahren des permanenten Rückgangs lässt die diesjährig beobachtete Anzahl der Küken hoffen, dass der stetige Abwärtstrend zumindest verringert werden kann. „Der kommende Winter wird‘s aber zeigen“, sagt Kratzer. Er urteilt über Leben und Tod der jungen Auerhühner, denn bis dahin müssen sie sich das 100fache ihres Geburtsgewichts angefressen haben. Klingt viel, ist viel!
Nur gesunde Vögel können diese karge, energiezerrende Jahreszeit überleben. Vorausgesetzt ist, dass sie zusätzlich nicht gestört werden. Denn jeder erhöhte Energieverlust durch Fluchtreaktionen kann durch die nährstoffarme Winternahrung nicht mehr ausreichend kompensiert werden. Die Ruhe in den Wintermonaten ist also entscheidend für das Überleben der Auerhühner!
Die Freude über die Anzahl der Küken ist Kratzer ins Gesicht geschrieben. Er lebt und leidet mit ihnen, und wem gesagt würde, der Forstwissenschaftler würde die im Nationalpark verbliebenen Auerhühner mit Namen kennen, ist geneigt, auch dies zu glauben. Tatsächlich scheint Kratzer im Schwarzwald der letzte Strohhalm für den arg in Bedrängnis geratenen größten Hühnervogel Europas zu sein. Immerhin ist er es, der den Notfall-Plan Auerhuhn, der vom Nationalpark für die Jahre 2022 bis 2026 ausgerufen wurde, federführend erarbeitet hat und auch verantwortlich umsetzen soll. Fünf in der Evolutionsgeschichte läppische Jahre hat sich der Nationalpark und damit auch Kratzer Zeit gegeben, das Ruder herumzureißen. Kratzer: „Die nächsten Jahre sind entscheidend und es müssen zwingend notwendige Sofortmaßnahmen umgesetzt werden. Werden keine weiteren Schritte zum Schutz ergriffen, wird sich die negative Populationsentwicklung noch schneller fortsetzen und das Auerhuhn in wenigen Jahren ganz verschwinden.“ Ein schier aussichtsloses Unterfangen vor dem Hintergrund, dass das Auerhuhn kein Problem des Nationalparks, sondern im gesamten Schwarzwald vom Aussterben bedroht ist. Nur wenn im gesamten Schwarzwald zeitgleich Schutzmaßnahmen ergriffen würden, bestünde noch eine kleine Chance, das Tier zu retten.
Die Fakten sind beängstigend: Waren es 2014 noch 56 balzende Auerhähne im Nationalpark, sind es nach aktueller Erhebung nur noch 17, und wenn man nun berücksichtigt, dass hier 20 Prozent der Population des Schwarzwalds leben, kommen wir im Gesamtgebiet auf nicht einmal mehr 100 Hähne. Die Gründe für den permanenten und dramatischen Rückgang sind mehrschichtig und zeigen vor allem die Wechselwirkung in der Natur. Kratzer zählt Beispiele auf: „Veränderung der Waldbewirtschaftung, Aufgabe historischer Waldnutzungsformen, Entwässerung der Moore, Zunahme des Fichtenanteils und flächiges Zuwachsen, Abnahme der Kiefernanteile sowie eine veränderte Walddynamik, eine Zunahme der Fressfeinde und natürlich ein stärker gewordenes Besucheraufkommen“. Anschaulicher wird es womöglich, wenn ein kleiner Bereich herausgestellt wird: Sind die Heidelbeersträucher zu hoch, weil sie von zu wenig Rothirschen kaum niedergetrampelt oder abgefressen werden, können Küken in einem kalten, feuchten Frühjahr nie richtig trocknen, weil nasse Heidelbeersträucher, unter denen sie durchschlüpfen, dies verhindern. Die Folge: Die Jungvögel verklammen und erfrieren. Und das ist nur ein Beispiel!
Diese Wechselwirkungen, die ein Mensch nur dann erfassen kann, wenn die Wissenschaft fundierte Daten liefert, sind daher auch der Ansatzpunkt für den Notfallplan. „Es geht darum, die natürlichen Rahmenbedingungen für das Auerhuhn so weit als möglich wieder herzustellen“, sagt Kratzer und fügt hinzu: „Wir müssen jetzt handeln und wir müssen schnell handeln. Wir sind gut vernetzt und stehen in stetigem Austausch mit Experten in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Frankreich und Schottland, um das Auerhuhnmanagement stetig zu optimieren“. Und wichtig ist ihm dabei zu erwähnen, dass der Plan nicht auf der Meinung von einzelnen Wissenschaftlern beruht, sondern auf exakten, über einen langen Zeitraum erhobenen Daten. „Nur die Faktenlage zählt“.
Was dem Hilfseinsatz durch lebensraumverbessernde Maßnahmen jedoch eine besondere Note gibt, ist die Tatsache, dass der Nationalpark in seiner Kernzone eigentlich Natur Natur sein lassen, sprich nicht eingreifen soll. „Das ist im Rahmen des Notfallplans absolut eine Ausnahme“, sagt Kratzer, der auf die EU-rechtliche Verpflichtung zum Schutz des Auerhuhns verweist, die das Landesrecht überragt. Da der Notfallplan Auerhuhn aber in die Abläufe des Großschutzgebiets eingreift und die Besucherlenkung, das Wildtiermanagement, das Flächenmanagement, aber auch das Borkenkäfermanagement berührt, wurde alles zwar recht schnell, aber dennoch sorgsam geplant und vom Nationalparkrat und dem Umweltministerium freigegeben. „Wir müssen tatsächlich in mehrere Managementaufgaben des Nationalparks eingreifen, aber unsere Vorschläge sind auf eine breite Zustimmung und Bereitschaft zur Mithilfe gestoßen.“
Aber wie so oft im Leben kam alles anders. Aus rechtlich-politischen Gründen musste er über eine Rückkehr nach Deutschland nachdenken und bewarb sich 2015 bei der Nationalparkverwaltung. Jetzt ist er im Fachbereich 5, Wildtiermanagement, tätig und kümmert sich mit Power, aber doch nur neben seiner angestammten Aufgabe, um den Erhalt des Auerhuhns. Raffael Kratzer ist 41 Jahre alt und Vater von zwei Kindern.
Mit drei Überschriften hat Kratzer seine Schritte zur Rettung des Auerhuhns gekennzeichnet: Die Optimierung und Aufwertung des Lebensraums, die Verminderung der Sterblichkeit durch Fressräuber und die Verringerung der durch Menschen verursachten Störungen. Auch wenn Kratzer befürchtet, dass eine generelle Trendumkehr im Schwarzwald eher unwahrscheinlich ist, wollen er und seine Kollegen um den Fortbestand kämpfen: Und dabei können sie eine wirklich scharfe Waffe führen: Sie wissen genau, wo sich die Balzplätze, die sogenannten Ankerplätze des Auerhuhns, sowie die Kükenaufzuchtgebiete im Nationalpark befinden und können ihre Maßnahmen zielgenau einleiten. In diesem Umfeld sollen z. B. Freiflächen erhalten, das Zuwachsen durch Fichten verhindert, wichtige Balz-, Schlaf- und Nahrungsbäume (wie Kiefer, Lärche, Tanne oder Laubbäume) begünstigt und gegebenenfalls Bäume entfernt werden, um Flugschneisen zu bilden. Und es soll die Bejagung der Rothirsche so gesteuert werden, dass sie in die relevanten Gebiete vordringen und – wie es im Fachjargon heißt – Druck auf die Heidelbeeren ausüben können; diese also abfressen und heruntertrampeln. Nicht Halt macht der Plan auch vor temporären Sperrungen des öffentlichen Wegenetzes in wichtigen, störungssensiblen Lebensphasen des Auerhuhns oder einem kompletten Wegerückbau von ohnehin gesperrten Wegen. Kratzer: „Dies betrifft aber nur Wege, die als solche erkennbar, aber im Nationalparkplan nicht als zugänglich definiert sind. Diese Maßnahme hat also keinen Einfluss auf die Besucher des Parks.“ Begleitet wird der Notfallplan Auerhuhn selbstverständlich von wissenschaftlichem Monitoring, wie die Lebensraumkartierung, Populationsentwicklung oder das Besendern der Rothirsche und von natürlichen Fressfeinden wie dem Fuchs. „Nur so können wir erkennen, ob unsere Hilfestellung auch greift“, sagt Kratzer, der daraus im Idealfall eine Handlungsanleitung für andere Regionen mit diesem Problem ableiten will.
Wenn die Küken dieses Frühjahres überleben, hat Kratzer zumindest die Hoffnung, dass es gelingen könnte, „zumindest den jetzigen Stand der Population zu halten“. Doch was die Erfolgsaussichten so ungewiss macht, istauch vom Mensch nur bedingt steuerbar. „Das Auerhuhn hat generell eine hohe Mortalitätsrate“.