Der blau-weiß schimmernde Klotz, der gemächlich vorbeidümpelt, hat die Größe eines Mehrfamilienhauses. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn haben wir nicht gelernt, dass sechs Siebtel davon gar nicht zu sehen sind? Es ist kolossal. Und scheinbar nimmer endend. Natürlich haben wir uns vorbereitet, haben uns eingelesen, haben Bilder gegoogelt, doch die Realität übersteigt die größten Erwartungen. Südlich des 66. Breitengrades, dem als Polarkreis eine besondere Bedeutung beigemessen wird, hat die Welt ein anderes Gesicht. Es sind nicht nur die gewaltigen Eisberge, die Treibeisfelder, die zum Teil mehrere hundert Meter dicken Abbruchkanten der Festlandgletscher, die vordergründig auf den Betrachter wirken, es ist eine auch beklommen machende Widersprüchlichkeit zwischen absoluter Naturgewalt und fragiler Zerbrechlichkeit. Liegt es an dem grenzenlosen Weiß-Blau, das von nichts anderem durchdrungen wird? Liegt es an den Gedanken an den Klimawandel, mit dem wir seit Jahren konfrontiert werden? Oder liegt es einfach daran, dass die Antarktis als einziger nicht von Menschen bewohnter Erdteil trotz ihrer Abgeschiedenheit uns unsere Winzigkeit vor Augen hält?
Nicht umsonst hat der 1930 verstorbene deutsche Polarforscher Alfred Wegener einen Satz für die Ewigkeit formuliert, der vielleicht nie besser gepasst hat wie in heutigen Zeiten: „Wie gleichgültig geht die Natur über unsere Leistungen hinweg“. Wegener, der vorwiegend in Grönland forschte, hat uns damit ins Stammbuch geschrieben: Die Natur wird sich den Menschen nicht beugen, sie wird sich verändern, wie sie es immer getan hat, sie wird sich auch dem anpassen, was wir ihr aufbürden, aber letztendlich braucht die Frage nach dem tatsächlichen Verlierer gar nicht gestellt zu werden.
Die vorgelagerten Kleinen Shetlandinseln und danach der riesige, mit Meerwasser und von Kreuzfahrtschiffen befahrbare Krater von „Deception Island“ waren nur Vorboten einer atemberaubenden antarktischen Erfahrung, ehe uns das ewige Eis in seinen Bann schlägt. Der Kontinent ist riesig und größer als USA und Mexiko zusammen, doch obwohl wir nur den äußersten Zipfel, die antarktische Halbinsel bereisen, wird die besondere Dimension dieser Tour spürbar. Expeditionsseereisen lassen sich nur im antarktischen Sommer zwischen Oktober und März durchführen, danach können weder Flugzeuge noch Schiffe den Kontinent erreichen, lediglich die unverdrossenen Wissenschaftler der zahlreichen internationalen Forschungsstationen trotzen der ewigen Dunkelheit. Und mehr noch den Stürmen, die eine Windgeschwindigkeit von bis zu 300 km/h entfachen, der Eiseskälte mit einem gemessenen Minusrekord von 90 Grad Celsius, oder der Trockenheit, die sogar größer ist als die in der Sahara. Unwirtlicher geht’s kaum.
Auf der Weiterfahrt sichten wir Wale und sind darüber genauso glücklich wie über das sich nach einigen trüben Tagen wieder zunehmend aufklarende Wetter. Bei den Passagieren überwiegt eine Ergriffenheit ob der wunderbaren Natur. Ein ganzer Kontinent beinahe gänzlich unberührt, fast ausschließlich von Tieren erobert. Auch wenn es aufgrund der rauen Lebensbedingungen nur eine überschaubare Artenvielfalt gibt, sind diejenigen, die sich angepasst haben, in großer Vielzahl vertreten. Pinguine, die man nicht nur sieht, sondern bei den Anlandungen aufgrund ihres penetranten Ausscheidungsgeruchs auch kräftig riecht, Robben und unterschiedliche „Flieger“, wie Sturmvogel, Kormoran oder Albatros.
Wir sollten diese Unberührtheit so belassen. Der Antarktisvertrag von 1961 hat hier wichtige Grundlagen erarbeitet, weil der Kontinent von zwölf Unterzeichnernationen, die bis dahin Territorialansprüche angemeldet hatten, als gemeinsames Erbe angesehen wurde. Ein Novum! Aus heutiger Sicht kommt es einem Wunder gleich, dass dieser internationale Vertrag angesichts der vielen Rohstoff- und geopolitischen Interessen der Nationen überhaupt zustande kommen konnte. Die seinerzeitigen Beschlüsse legten eine friedliche Nutzung, die Zurückstellung nationaler Interessen und die gemeinsame Forschung als Ziele fest. Nach der Ölkrise Anfang der 70er Jahre änderte sich der Blickwinkel jedoch und Begehrlichkeiten wurden laut. Der Abbau von Bodenschätzen, die nach Untersuchungen und folgenden Schätzungen gigantisch sein müssen, sollte plötzlich wieder möglich sein. Tatsächlich einigten sich „Whalers Bay“ – eine Art Freilichtmuseum, das die Sünden der Vergangenheit aufzeigt Schneefall bei Nacht hat den Kraterrand von „Deception Islands“ mit einem Zuckerguss versehen. Die Vertragsstaaten 1988 auf eine Nutzung mineralischer Rohstoffe, was den Bau von Häfen, Industrieanlagen und Bergwerken in der Antarktis mit unabsehbaren Folgen für die Umwelt erforderlich gemacht hätte. Unvorstellbar. Völlig überraschend zogen Frankreich und Australien ein Jahr später zurück und ließen das Vertragswerk platzen; womöglich auch unter dem Druck einiger von Greenpeace öffentlich gemachter Umweltskandale in der Antarktis. Nun drehte sich der Wind und schon 1991 trat ein umfassendes Umweltschutzsystem in Kraft, das u.a. jegliches Verbot von Bergbauaktivitäten beinhaltet und 50 Jahre lang nicht verändert werden kann. Dem Antarktisvertrag gehören mittlerweile 45 Nationen an.
All das verfehlt inmitten der kargen Kraterlandschaft mit schwarzem Lava-Kies seine Wirkung nicht. Selbst die Wissenschaftler an Bord sehen den Nutzen dieser Geisterstadt als „Momentum des Aufrüttelns“ und wollen es gerne so belassen. Moderne Expeditionsseereisen in die Antarktis kommen längst nicht mehr umhin, sich einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. Klingt zunächst etwas nach Alibi, ist aber weit mehr als eine Fassadenrenovierung. Die „Roald Amundsen“, benannt nach dem ersten Menschen, der je den Südpol betrat, führt ein Science Center mit und gibt gut zwei Dutzend internationalen Wissenschaftlern die Möglichkeit, die Erforschung des Polarmeeres und der Tierpopulationen voranzutreiben. Während Touristen an ausgewählten und von den Behörden im Vorfeld genehmigten Orten an Land gehen dürfen, kartieren die Forscher Wale mit der Drohne aus der Luft, kennzeichnen die Tiere mit Sendern, nehmen Wasserproben oder analysieren beispielsweise die Verschmutzung mit Plastik, eines der großen Probleme unserer Meere. Die Ergebnisse fließen in das Netzwerk der internationalen Wissenschaft ein, werden aber auch in Vorträgen den Passagieren zugänglich gemacht. Die Nachricht des Tages: Im europäischen Trinkwasser sei mehr Mikroplastik enthalten als im südlichen Polarmeer.
Wir haben es oft auch mit Oberflächlichkeit und Ignoranz zu tun, wenn es um unsere Umwelt geht. Als wir an einem wunderschönen antarktischen Sommertag “Cuverville Island“ betreten, sagt ein Reisegast, sicherlich beeindruckt von den Pinguinen, Robben und den Eisbergen ringsum: „Und hier blühen in 20 Jahren die Palmen“. Diese Aussage ist komplett sinnentleert, und die Replik unseres Expeditionsleiters Tomasz Zadrozny kommt umgehend: „Vielleicht in 20.000 Jahren!“ sagt der studierte Tierbiologe und Antarktiskenner, dem anzusehen war, dass ihn solche dahingelaberten Aussagen nerven. Auch wenn immer mehr Eis in der Antarktis verloren geht und dies von der Wissenschaft auch durchaus als dramatisch bezeichnet wird, auch wenn sich Niederschläge und wärmere Phasen häufen, auch wenn der ökologische Haushalt der Meere weiter gestört wird, weder dieser Passagier noch dessen Enkel und Urenkel und deren Urenkel werden je das Ende des Eises erleben. Dieses Unwissen oder dieses nur-so-dahin-gesagt-sein gepaart mit dem Nichtvorhandensein einer unmittelbaren Gefahr macht es so schwer, den Schalter in den Köpfen umzulegen. Um es mit Alfred Wegener zu sagen. Die Natur geht einfach über uns hinweg. Aber können wir das wollen?
Der Blick in die Bucht von „Cuverville“ mit ihren gestrandeten Eisbergen und auf die andere Seite mit dem sich anschließenden Höhenzug macht auch das Dilemma des Tourismus in dieser Region deutlich. Die Anlandungsstellen sind in der Regel klein und der Bewegungsradius sehr beschränkt mit der Folge, dass die Passagiere in Gruppen einfallen und so etwas wie Massentourismus im Kleinen auslösen. Überall rotgewandete Menschen inmitten von Pinguinkolonien. Es ist gut, dass der Antarktisvertrag auch den Tourismus steuert, die Veranstalter inzwischen immense Kraft für die Aufklärung und den Schutz der bereisten Gebiete verwenden und die Auflagen in den zurückliegenden Jahren noch strenger geworden sind. Dennoch muss man sich bewusst sein, dass in einer Saison Dutzende von Schiffen Tausende von Menschen in diese Region bringen. Wir genießen das Privileg, in eine abgelegene, unfassbar schöne Region unserer Erde reisen zu dürfen, und deshalb sollten wir als Äquivalent zuhause für den Erhalt unserer Grundlagen werben und auch danach handeln. Die Antarktis umfasst den Kontinent Antarktika sowie das Südpolarmeer mit einigen Inseln. Mit 14 Millionen Quadratkilometern ist der Kontinent 40 Mal so groß wie Deutschland. Nähert man sich per Schiff, so ist der Temperaturwechsel deutlich zu spüren. Dort, wo zwischen dem 50. und 60. Breitengrad das eiskalte Polarwasser unter das warme nördliche Wasser sinkt, befindet sich eine wichtige biologische Grenze, die sogenannte „Antarktische Konvergenz“.
Ab dort finden sich viele Arten von Pflanzen und Tieren, die typisch für antarktische Gewässer sind, auf der anderen Seite der Konvergenz aber selten. Wegen der rauen Lebensbedingungen bieten die eisigen Meere um den Pol eine relativ geringe Artenvielfalt. Dafür kommen die wenigen Arten in großen Beständen vor, anders als zum Beispiel im tropischen Regenwald, wo es unzählige Arten gibt, häufig aber nur mit ganz kleiner, lokaler Verbreitung. Viele der höher entwickelten Tiere leben vom Krill, einer etwa sieben Zentimeter langen Garnelenart. Milliarden Krilltiere bilden riesige Schwärme, die bei Tageslicht als rote Flecken und bei Nacht als grüne Seen funkeln. Krill ist ein zentraler Baustein im Nahrungsnetz der Antarktis, ohne den viele andere keine Überlebenschance hätten: Pinguine, Seevögel, die meisten Robben, aber auch Wale und Fische. Wenn die flugunfähigen Pinguine nach Krill und Fisch jagen, „fliegen“ sie mit bis zu 25 Stundenkilometern durchs Wasser. Im antarktischen Sommer, wenn die Sonne nicht untergeht, vermehren sich Algen und das Zooplankton relativ schnell. Sie sind der Anfang der Nahrungskette und wichtig für alle, die sich Speckvorräte für den langen Winter anfressen müssen.